Quickborn unter Höchstspannung
  Neue wissenschaftliche Publikationen
 

Vorbemerkung:  Aktuelle hier relevante*) wissenschaftliche Publikationen können aus Kapazitätsgründen nur sporadisch kommentiert werden.
Schwerpunkte der Auswahl und des Kommentars sind:
1) Relevanz der neuen wissenschaftlichen Ergebnisse für die Notwendigkeit  der Änderung der geltenden Grenzwerte*) oder der Einführung verpflichtender Vorsorgemaßnahmen.
2) Eventuelle Diskrepanzen zwischen wissenschaftlichen Ergebnissen und der Formulierung dieser Ergebnisse in der Zusammenfassung der Publikation.
Erfahrungsgemäß ist nur letztere maßgeblich für die Begründung der Einführung oder – wie bisher – der Unterlassung von Vorsorge-maßnahmen.  

*) Alle Kommentare beziehen sich nur auf elektromagnetische Felder im 50 Hz-Bereich (extremely low frequency electromagnetic fields (ELFEMF)), dem Frequenzbereich von Hochspannungsleitungen.


16.1.17

Interessante Aspekte:
1. Lerneffekte aus den Misserfolgen bei der Entwicklung von Krebsmedikamenten:
Zu den Mängeln der meisten bisherigen in-vitro-Untersuchungen
2. Diskrepanz zwischen aktuellem Forschungsstand und offizieller Forschung zu
gesundheitlichen Wirkungen elektromagnetischer Felder

In vitro cancer cell–ECM interactions inform in vivo cancer treatment

 

Advanced Drug Delivery Reviews 97 (2016) 270–279
Andrew W. Holle a, Jennifer L. Young a, Joachim P. Spatz a,b
a Department of New Materials and Biosystems, Max Planck Institute for Intelligent Systems, Stuttgart 70569,
b Department of Biophysical Chemistry, University of Heidelberg, Heidelberg 69047, Germany

 Zusammenfassender Kommentar zu dieser Publikation:

Der Kommentar erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Aussagekraft von in-vitro-Experimenten. Diese sind eine wesentliche Komponente zur Beurteilung der möglicherweise gesundheitlichen Wirkungen als Basis für die Festlegung der gültigen deutschen Grenzwerte für elektromagnetische Felder.

(In-vitro-Experimente werden in einer kontrollierten künstlichen Umgebung außerhalb eines lebenden Organismus, z.B. im Reagenzglas, durchgeführt.)

Die Publikation ist ein Beispiel für das aktuelle wissenschaftliche Niveau bei in-vitro-Studien zur Erfassung der Wirkung äußerer Einflüsse – hier im Rahmen der Entwicklung neuer Krebsmedikamente.

Kernaussage: Die Wirkung kann nur richtig erfasst werden, wenn die Messungen nicht nur separat an den Zellen, sondern an den Zellen zusammen mit der sie umgebenden extrazellulären Matrix (EZM) erfolgen. Deshalb werden in den in-vitro-Experimenten biomimetische „Gerüste“ und Durchströmungssysteme verwendet, die wesentliche Einflüsse der EZM auf die resultierenden Wirkungen repräsentieren.

Konsequenzen:

- In-vitro-Experimente ohne Berücksichtigung des EZM-Einflusses sind wenig aussagkräftig.

- Insbesondere liefern sie keine verlässlichen Ergebnisse für die tatsächlichen Wirkungen beim Menschen.

- Die in-vitro-Experimente, die bisher bekanntermaßen herangezogen wurden im Rahmen der Bewertung gesundheitlicher Folgen niederfrequenter elektromagnetischer Felder (NFEMF), berücksichtigen nicht die vielfältigen Einflussmöglichkeiten der EZM.

- Damit ist die Vielzahl bisheriger in-vitro-Experimente nicht geeignet, Aussagen zu Grenzwerten oder zur Befürwortung oder Ablehnung verpflichtender Vorsorgemaß-nahmen zu machen.

- Der oft unterschwellig erweckte Eindruck, dass eine negative gesundheitliche Wirkung von NFEMF unwahrscheinlich sei, weil es trotz zahlreicher Untersuchungen keinen konsistenten Nachweis dafür gebe, ist irreführend. Dazu waren diese Untersuchungen gar nicht in der Lage.

Empfehlungen/Anmerkungen:

- Wenn auch in der Publikation der Einfluss externer elektromagnetischer Felder (EMF) nicht behandelt wird, so erscheint aber die vorgestellte experimentelle Vorgehensweise als eine ausgezeichnete Basis, bei neuen  Experimenten mit zusätzlicher Beeinflussung durch externe elektromagnetische Felder aussagefähigere Informationen zu deren Wirkungen zu bekommen.

- Im Rahmen der notwendigen Ursachenforschung für nicht funktionierende Krebstherapien wird zwangsläufig die außerordentliche Komplexität der beteiligten biomolekularen Signalprozesse und sonstiger Verknüpfungen der beteiligten Komponenten deutlich.

- Wie in der vorgestellten Publikation betont, finden die relevanten biophysikalischen Prozesse im Nanometerbereich statt. Das ist auch zu berücksichtigen, wenn die Wirkungsmechanismen elektromagnetischer Felder für gesundheitliche Folgen aufgeklärt bzw. berücksichtigt werden sollen. Im Kontrast dazu stehen die Folgerungen aus Mittelungen über den Millimeterbereich, die für die Ableitung der geltenden Grenzwerte gemacht wurden (s.a. diese Website, Rubrik „Grenzwerte-Herleitung: wissensch. Defizite 2016“).

 Begründung der Auswahl dieser Publikation:

1. Wissenschaftliches Niveau und Aktualität: Koautor ist J.P.Spatz, Träger des Leibnizpreises 2016, des wichtigsten Forschungsförderpreises in Deutschland.

2. Mit diesem Themenkreis, der Aussagefähigkeit von in vitro Versuchen,  befasste sich auch die letzte hier am 6.12.16 vorgestellte Publikation, speziell aber zu gesundheitlichen Auswirkungen von elektrischen und magnetischen Feldern.

3. Die jetzt vorgestellte Publikation ist ein Beispiel für das aktuelle wissenschaftliche Niveau bei in-vitro-Studien zur Erfassung äußerer Einflüsse – hier im Rahmen der Entwicklung neuer Krebsmedikamente. 

Sie ist ein Beispiel für zielgerichtete, „offensiv“ vorangetriebene Forschung. Im Gegensatz dazu wird „defensive“ Forschung meist nur zögerlich und mit verhältnismäßig geringem Aufwand durchgeführt (teilweise sogar als „Alibiforschung“ kritisiert). Mit „defensiver“ Forschung ist hier Forschung gemeint, die zur Absicherung gegen unerwünschte Nebeneffekte bei ansonsten nützlichen, oft sehr lukrativen Vorhaben erfolgen sollte. Als Beispiel hierfür erscheint seit ca. zwei Jahrzehnten die Forschung zu gesundheits-relevanten Folgen  niederfrequenter elektromagnetischer Felder.

Inhalt der der Publikation:  

Informationen aus in vitro Experimenten zur Wechselwirkung von Krebszellen mit der extrazellulären Matrix (EZM) zur Krebsbehandlung

Hintergrundthema ist die bei der Entwicklung von Krebsmedikamenten oft bestehende Diskrepanz zwischen erfolgreichen Wirkungen der Krebsmedikamente bei in-vitro-Versuchen und deren unbefriedigende Wirkungen in vivo.

Die Ursache dafür sind oft Eigenschaften der Mikro-Umgebung der Krebszellen, d.h. der umgebenden EZM, die die Zellen gegen chemische Behandlung resistent machen. Diese Mikroumgebung wurde meistens bei früheren in-vitro-Versuchen nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt.

Deshalb wurden in den in-vitro-Experimenten kleine Vorrichtungen und andere Maßnahmen zur Simulation der Mikroumgebung eingesetzt.

Die Einflüsse der Matrixsteifigkeit auf die Migration, Proliferation, Differenzierung und Adhäsion von Zellen werden aufgezeigt, ebenso wie Zusammenhänge mit lokalem pH, Sauerstoffgehalt und Art und Menge verfügbarer Liganden. Letztere bestimmen durch ihre Zellkontaktstellen Signalprozesse in der Zelle, die das Zellschicksal bestimmen.

Zudem werden in der Publikation auch konkrete Wege zur Variation der relevanten EZM-Eigenschaften in den in-vitro-Experimenten genannt.

Der letzte Teil bringt Stellungnahmen zu bestehenden Krebstherapien, die Wechselwirkungen mit der EZM berücksichtigen, und Empfehlungen für zukünftige Vorgehensweisen.

 


4.12.16

The Use of Signal-Transduction and Metabolic Pathways to Predict Human Disease Targets from Electric and Magnetic Fields Using in vitro Data in Human Cell Lines

Frontiers in Public Health, Vol.4, Article 193, September 2016
F. Parham1, C.J. Portier2, X. Chang1 and M. Mevissen3*

1 National Inst. of Environm. Health Sciences, Research Triangle Park, Durham, NC, USA, 2 Environmental Health Research, Thun, Switzerland, 3 Division of Veterinary Pharmacology and Toxicology, Vetsuisse Faculty, University of Bern, Switzerland

1.) Zum Inhalt: 
Vorhandene Daten wurden bewertet, die aus verschiedenen in vitro-Untersuchungen der Änderung der Genexpression in menschlichen Zellen unter dem Einfluss eines elektromag-netischen Feldes extrem niedriger Frequenz (ELFEMF, z.B. 50 Hz) stammen.

Die Daten wurden bewertet im Hinblick auf plausible Verknüpfungen mit Krankheiten.  Dazu wurden molekulare Signalwege, die bekannterweise von Krankheiten betroffen sind, verglichen mit den Signalwegen, die von ELFEMF beeinflusst wurden. 
Die Ergebnisse der Datenauswertung unterstützen eine Verknüpfung von ELFEMF u.a. mit Krebs und neurolo-gischen Funktionsstörungen. Die verwendeten Datensätze waren allerdings - in Anbetracht der komplexen Problematik - völlig unzureichend für eine gründlichere Analyse. Für eine weitere Klärung sollten nicht nur Untersuchungen der Genexpressionen, sondern auch der zugegehörigen Proteine durchgeführt werden.  

2.) Missverständliche Formulierungen der Zusammenfassung: 
(Erfahrungsgemäß dienen meist nur - oft aus dem Zusammenhang gerissene - Formulierungen aus Zusammen-fassungen als Referenz für die Ablehnung von Vorsorge-maßnahmen.)

Formulierungen wie die verwendete Formulierung „ ELFEMF Datensätze waren vereinzelt verknüpft mit Krankheiten, aber es zeigte sich kein klares Muster“ sind ein gängiges Vehikel, um mit einem pauschalen Kommentar wie „kein klares Muster erkennbar“  Vorsorgemaßnahmen abzulehnen.
Solch eine Formulierung liefe nicht die Gefahr der Irreführung, wenn sich trotz ausreichender Datenlage und komplexer Analysen keine Anhaltspunkte ergäben hätten.
Fakt ist, dass allein aufgrund der viel zu geringen Datenbasis sich gar kein "klares" Muster zeigen kann, dass sich aber trotz dieser viel zu geringen Datenbasis bei einem völlig allgemeinen, hypothesefreien Auswertungsansatz schon Verknüpfungen von ELFEMF zu Krebs und neurologischen Funktions-störungen ergeben haben. 

3.) Kommentar:
3.1) Wie von den Autoren betont, hat diese Studie den Vorteil eines völlig objektiven Ansatzes (z.B. ohne Vorgabe einer Hypothese für eine bestimmte Krankheit).

3.2) Die Studie arbeitet zudem auf dem wissenschaftlichen Niveau, das nach dem heutigen Kenntnisstand der vorliegenden Problematik angemessen ist (Stichwort „molekularbiologische Signalverarbeitung).
Das ist im Gegensatz zu dem wissenschaftlichen Niveau des letzten Jahrhunderts, auf dem die Ableitung der geltenden Grenzwerte beruht.

3.3) Ein großes Manko ist die unzureichende Datenbasis. Bedauerlich ist, dass in dieser Publikation von 2016 nur Daten aus Untersuchungen bis 2008 berücksichtigt wurden. Die nutzbare Datenbasis erscheint wesentlich größer; auch in den letzten Jahren erschienen zahlreiche Publikationen zu in vitro-Untersuchungen unter EMF-Einfluss.

3.4) Offen bleibt die Erfassung der Einflüsse von ELFEMF, die nicht über Veränderungen der Genexpression erfolgen.

3.5) Insgesamt liefert diese Studie keinen Baustein gegen, sondern für die Einführung von Regelungen über die jetzigen Grenzwerte hinaus.
Zu berücksichtigen ist natürlich, dass in vitro-Versuche nur eine Information über isolierte Teilaspekte bringen können.



20.10.16   Wichtige neue Publikationen zu der Unzulänglichkeit der geltenden Grenzwerte für elektromagnetische Felder:   

In den letzten 4 Monaten erschienen mehrere Publikationen, die die Unzulänglichkeiten der geltenden Grenzwerte zum Thema hatten. Kommentiert werden hier vier Publikationen, speziell unter dem Aspekt, inwieweit ihre wissenschaftlichen Informationen die Einführung strengerer Grenzwerte oder verpflichtender zusätzlicher Vorsorgemaßnahmen (im Zusammenhang mit Höchstspannungsleitungen) stützen.

Hervorzuheben ist, dass diese Publikationen nicht nur aus der Reihe derjenigen Wissenschaftlicher bzw. der Organisationen kommen, die seit langem strengere Grenzwerte bzw. Vorsorgemaßnahmen fordern. (Diese erste Gruppe ist wesentlich durch Mediziner und Naturwissenschaftlicher geprägt.)

Sondern massive Kritik und Forderungen nach Verbesserungen werden auch aus dem Kreise der Organisationen erhoben, deren fachliche Beurteilungen und Empfehlungen maßgeblich bei der Herleitung der jetzigen Grenzwerte mitgewirkt haben. (Diese zweite Gruppe ist wesentlich durch Elektroingenieure geprägt.)

Die Aussagen und Forderungen der ersten Gruppe [1] beziehen sich im Wesentlichen auf Erfahrungen  in der medizinischen Praxis und gesundheitliche Studien. Die jetzigen Aussagen der zweiten Gruppe [2][3][4] beziehen sich zwar nicht auf spezielle gesundheitliche Schädigungen; sie belegen aber die Unzulänglichkeit der Herleitung der Grenzwerte im Hinblick auf den Schutz vor gesundheitlichen Schädigungen.

1) Die Leitlinie 2016 zur Prävention Diagnostik und Therapie EMFbedingter Beschwerden und Krankheiten der European Academy for Environmental Medicine

[1]EUROPAEM EMF Guideline 2016 for the prevention, diagnosis and treatment of EMF-related health problems and illnesses,

Belyaev I, Dean A, Eger H, Hubmann G, Jandrisovits R, Kern M, Kundi M, Moshammer H, Lercher P, Müller K, Oberfeld G, Ohnsorge P, Pelzmann P, Scheingraber C, Thill R, Rev Environ Health. 2016 Sep 1;31(3):363-97  

EMF: elektromagnetische Felder
EUROPAEM: Europäische Akademie für Umweltmedizin, ein Zusammenschluss von Umweltmedizinern und Naurwissenschaftlern

Eigene Zusammenfassung:

Diese Publikation beruht auf der Erfahrung und Sicht von Umweltmedizinern. 
Speziell hingewiesen wird u.a. auf folgende Punkte:

-  die wachsenden Erfahrungen aus der Praxis: Studien, empirische Beobachtungen und Berichte von Patienten, die eindeutig auf Wechselwirkungen zwischen Beschwerden und der Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern (EMF) hinwiesen,
-  die nicht berücksichtigten Langzeitwirkungen „nicht thermischer“ Effekte bei der Festlegung der Grenzwerte (angeführte Beispiele u.a.  Kinderleukämie und Störungen im Nervensystem), 
-   „nicht thermische“ Wirkungsmechanismen, die auf molekularbiologischer Basis die Beeinträchtigungen/Schäden durch EMF erklären können,
-  der wachsende internationale Druck von Experten auf angemessenere Grenzwerte bzw. Vorsorgemaßnahmen (über 20 internationale Resolutionen, Appelle etc.  von z.T. Hunderten von Medizinern und Naturwissenschaftlern),
-  die individuelle Empfindlichkeit gegenüber Umwelteinflüssen wie EMF,
-  Multisystemerkrankung.

Zudem wird empfohlen, elektromagnetische Hypersensitivität (EHS) klinisch als einen Teil der chronischen Multisystemerkrankungen (CMI) zu behandeln, und eine Leitlinie gibt Empfehlungen für die Diagnose und Behandlung von EHS.

Kommentar:

(A) Ein Teil der Findungen und Bewertungen wäre unmittelbar nachvollziehbar: Das elektromagnetische Feld (EMF) als externer Stimulus ( „Umwelteinflussfaktor“) ist ein unspezifischer Stimulus. Es ist vom Typ in seiner physikalischen Wirkung identisch mit der Einwirkung, die in jedem Teil des Körpers vom Biomolekül über die Zelle bis zum Organ die jeweiligen Eigenschaften und damit die molekularbiologischen Signalprozesse und damit die physiogischen Prozesse bestimmt. Wenn man also an dem für die Körperfunktion optimalen elektromagnetischen Feld durch ein externes EMF  „etwas herumdreht“, ist es vom Prinzip her nicht verwunderlich, dass gleichzeitig unterschiedliche Organe betroffen sein können und gleichzeitig unterschiedliche gesundheitliche Beeinträchtigungen auftreten können. Ebenso ist die unterschiedliche individuelle Empfindlichkeit gegenüber dem externen EMF unmittelbar nachvollziehbar. (Was in der Publikation nicht erwähnt wird, aber ebenso nachvollziehbar wäre, wäre eine Abhängigkeit der physiologischen Wirkung von der jeweiligen Zeitphase der externen EMF-Einwirkung.)

(B) Als wesentlicher Problempunkt für die Durchsetzung strengerer Grenzwerte oder verpflichtender Vorsorgemaß-nahmen bleibt aber eine weitgehende Anerkennung der Nachweise, dass ein externes EMF innerhalb der geltenden Grenzwerte in der Lage ist, die notwendigen internen molekularbiologischen Abläufe entscheidend zu stören. Das wird bis heute – auch bei Argumenten in gerichtlichen Urteilen – bestritten mit der Aussage, dass dafür ein (mikroskopischer) Wirkungsmechanismus nicht sicher nachgewiesen ist. Die in der Publikation angeführten Wirkungsmechanismen (z.B. via oxidativen oder nitrosativen Stress) waren auch schon bekannt, als 2013 in der Neufassung der 26. Bundesimmissionsschutz-verordnung im Wesentlichen die alten Grenzwerte von 1996 beibehalten wurden.

Zur Durchsetzung strengerer Grenzwerte oder verpflichtender Vorsorgemaßnahmen besteht noch dringender Handlungsbedarf – vorrangig bei der angemessenen Risikobewertung der bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse.

 

2) Low-frequency electrical dosimetry: research agenda of the IEEE International Committee on Electromagnetic Safety

[2] J.P. Reilly, A. Hirata, Phys. Med. Biol. 61 (2016) R138–R149

IEEE: Institute of Electrical and Electronics Engineers (weltgrößter Berufsverband technischer Berufe), IEEE-ICES:  IEEE International Committee on Electromagnetic Safety 

Die geltenden Grenzwerte sind maßgeblich von den früheren Aussagen des IEEE (z.B. 2002) mitgeprägt.

Eigene Zusammenfassung:

Zur Herleitung der geltenden Grenzwerte wurden eine ganze Reihe von Annahmen gemacht. Dazu werden jetzt 25 Punkte  zur Klärung bzw. Verbesserung angeführt, verteilt über den ganzen Problembereich der Grenzwertfestlegung. Höchste Priorität wird für 9 Punkte genannt. Diese betreffen sowohl physikalische Messungen, die unterschiedlichen Simulationsmodelle, statistische Aspekte bei der Ermittlung der Reaktionsschwelle und Mängel bei den verwendeten Berechnungsverfahren.  Als Prioritätskriterium wird ausdrücklich die Verbesserung der Festlegung akzeptabler Grenzwerte genannt. 

Kommentar:

Der bestehende grundsätzliche Mangel bei der Herleitung der geltenden Grenzwerte wird nicht genannt: die Nichtberücksichtigung des etablierten Standes der Wissenschaft wie z.B. zwingende Folgerungen, die sich aus den Erkenntnissen der Molekularbiologie ergeben.

Die verbleibenden Verbesserungsvorschläge zeigen gravierende Defizite der geltenden Grenzwerte auf. Diese Defizite können auch nicht von den eingeführten Sicherheitsfaktoren kompensiert werden.  (Die substantielle Bedeutung der genannten Unzulänglichkeiten bzw. Defizite kann nicht in einem Kurzkommentar nachvollzogen werden. Dazu wurde das Kapitel  „Grenzwerte-Herleitung: wissensch. Defizite 2016 “ ( s. Register links) erstellt.)

Die geltenden Grenzwerte werden mehrfach – indirekt, aber eindeutig – als nicht akzeptabel  bezeichnet.

Das steht im direkten Gegensatz zu Begründungen in Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts auch noch in letzter Zeit: Dort wird auf die geltenden Grenzwerte als ausreichender Gesundheitsschutz verwiesen mit der Aussage, dass diese Grenzwerte dafür ungeeignet oder unzulänglich seien, ließe sich mangels verlässlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse noch gar nicht abschätzen ( mit dem Verweis auf Urteile des Bundesverfassungsgericht (u.a. von 2002)). 

Bei diesen gegensätzlichen Aussagen ist zu beachten, dass die jetzige substantielle Kritik an den geltenden Grenzwerten aus dem Kreis der Organisationen stammt, auf deren frühere Empfehlungen die geltenden Grenzwerte im Wesentlichen beruhen.

 

3.)  Investigation of assumptions underlying current safety guidelines on EM-induced nerve stimulation

[3]  E. Neufeld, I.V. Oikonomidis, M.I. Iacono, L.M. Angelone, W. Kainz, N. Kuster Phys. Med. Biol. 61 (2016) 4466–4478

Eigene Zusammenfassung ( z.T. deutsche Übersetzung der originalen Zusammenfassung):

Die geltenden Grenzwerte sind hergeleitet, um unerwünschte Nervenstimulation durch das externe elekromagnetische Feld zu begrenzen. Sie beruhen dabei auf  mehrere explizite und implizite Annahmen, d.h. u.a. auch auf sehr einfache Simulationsmodelle zur Berechnung der Reizschwelle der Nervenerregung. In der Publikation wird ein neues komplexes Simulationsmodell vorgestellt, das realistische anatomische Gegebenheiten (also auch Inhomogenitäten) berücksichtigt und geeignete Neuronenmodelle (zur Beschreibung der Nervenreizverarbeitung) verwendet.
Als Ergebnis der Untersuchungen werden mehrfach Annahmen in Frage gestellt, die zur Herleitung der geltenden Grenzwerte gemacht wurden. Es wird betont, dass der Wert des vorgestellten Berechnungsmodells darin besteht, auf der sicheren Seite liegende Sicherheitskriterien (sprich Grenzwerte) zu erstellen („to establish conservative safety criteria“).
Kommentar:  siehe Kommentar zu 2) (s.o.)

 

4.)  Survey of numerical electrostimulation models

[4]   J.P. Reilly, , Phys. Med. Biol. 61 (2016) 4346–4363

 Eigene Zusammenfassung:

 „Elektrostimulationsmodelle“ werden hier Simulationsmodelle genannt, die zur Berechnung der Nervenerregung als Folge des induzierten elektromagnetisches Feldes an Nervenzellen dienen. Sie spielen eine wesentliche Rolle bei der Herleitung der Grenzwerte (s. auch [3](s.o.)).
Zehn verschiedene Elektrostimulationsmodelle werden verglichen mit folgenden Ergebnissen:
-  Die Unterschiede in den Ergebnissen der verschiedenen Modelle werden als unakzeptabel hoch bezeichnet.
-  Eine umfassende experimentelle Bestätigung der berechneten Ergebnisse ist erforderlich.
-  Zusätzliche neue Modelle zur Berechnung bisher nicht berücksichtigter Nervensystemkomponenten werden für notwendig gehalten.

 Kommentar:  siehe Kommentar zu 2) (s.o.)

 


Publikation vom 18.2.16  (Themenkreis: Wirkungsmechanismen) :

 Extremely Low Frequency Electromagnetic Fields Facilitate Vesicle Endocytosis by Increasing Presynaptic Calcium Channel Expression at a Central Synapse
Sun, Z.- et al. , Extremely Low Frequency Electromagnetic Fields Facilitate Vesicle Endocytosis by Increasing Presynaptic Calcium Channel Expression at a Central Synapse., Sci. Rep. 6, 21774; doi: 10.1038/srep21774 (2016). (s.a.: www.nature.com/scientificreports
State Key Laboratory of Medical Neurobiology, Department of Physiology and Biophysics, Fudan University, Shanghai

Eigene Zusammenfassung: Themengebiet ist die Signalübertragung zwischen Nervenzellen.
Eigene Skizzierung des Wirkungsmechanismus in Kurzform:

ELFEMF     erhöhte Kalziumkanal-Genexpression
                       → erhöhte Einströmung von Kalzium in Zellen bei Stimulation
                              fördert Vesikel-Endozytose
    (Diese spielt eine wesentliche Rolle bei der neuronalen Kommunikation.)
Zusammenfassend:      ELFEMF beeinflusst die neuronale Kommunikation

 Kommentar:   Mehrfach betonen die Autoren die sich anhäufende experimentelle Beweislage, die „signifikante biologische Effekte“  von ELFEMF nahelegt. Insbesondere verweisen sie auf die Zellmembranen und deren Ionenkanäle, speziell auch auf die zahlreichen Versuche mit den spannungsabhängigen Kalziumkanälen. Sie sehen dabei die Neuronen im Zentralen Nervensystem als die wahrscheinlich empfindlichsten „Kandidaten“.

 Als Beleg für eine Forderung strengerer Grenzwerte ist diese Arbeit nicht geeignet.
Gründe dafür sind u.a.:  Die Versuche wurden bei einer Belastung von 1 Millitesla durchgeführt, also bei einem Wert, der um Faktor 10 über dem deutschem Grenzwert liegt. Außerdem stammen die Ergebnisse aus Tierversuchen (an Mäusen), deren Übertragbarkeit auf Menschen oft grundsätzlich angezweifelt wird.  Zudem kann man die Frage nach dem Wirkungsmechanismus weitertreiben, denn der mikroskopische Mechanismus für die erhöhte Kalziumkanal-Genexpression durch ELFEMF ist  nicht geklärt.

 Möglicher Missbrauch dieser Art von Publikationen:
1. Bei einer undifferenzierten Betrachtungsweise des Forschungsaufwandes zu möglicherweise schädlichen Wirkungen durch (ELF-) elektromagnetische Felder werden solche Publikationen oft unter der Rubrik  „trotz jahrelanger Forschung keine schädlichen Effekte nachgewiesen“ verbucht.
2. Unzureichende Belege für die Notwendigkeit  strengerer Grenzwerte oder Vorsorgemaßnahmen sind garantiert - auch bei einem wesentlich höheren Forschungsaufwand, wenn man die Untersuchungen bei Feldstärken bzw Flussdichten oberhalb  der Grenzwerte durchführt und hauptsächlich auf  Tierversuche ausrichtet.

 
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